Die dunkle Raute der Macht – Dark Leadership Teil 5

Inszenieren als Beruf – Histrionische Persönlichkeiten bei der Arbeit.

Was haben Karl May und Karl-Theodor zu Guttenberg gemeinsam?

Beide hatten viele Geschichten und Erläuterungen für Ihr Publikum parat und beide wussten nach einiger Zeit selbst nicht mehr genau, was wahr oder unwahr ist. Beide hatten unrechtmäßig den „Dr.“-Titel geführt. Beiden nahm das Publikum diese unwahren Geschichten am Ende krumm und wandte sich ab. Dabei hätte es noch lange erfolgreich weitergehen können, die Prognose für ihre Karriere war eigentlich gut. Doch dann kam es für beide unerwartet anders.

Histrionische Persönlichkeiten sind immer unterhaltsam.

In der Mode, der Musik, bei Film und Fernsehen haben sie Laufsteg, seien es Harald Glööckler, Karl Lagerfeld, Freddy Mercury oder die Frau mit dem Blubb, Verona Poth. Auch Rechtsanwälte und Politiker haben es sich zum Beruf gemacht, die Aufmerksamkeit des Publikums auf sich zu ziehen, es zu faszinieren und mit seinen Gefühlen zu spielen. Sie wurden von solchen Berufen angezogen, weil sie spürten, dass ihnen hier ein Auftritt nach Maß offenstehen könnte. Man findet gewiss in der Werbung und in den Medien mehr histrionische Persönlichkeiten, als in der Metallurgie und der Landwirtschaft. Sie fühlen sich auch stärker zu großen Städten hingezogen als zu ländlichen Provinzen, schreibt Francois Lelord5.

Kinovorstellungen gibt es bei Ihnen immer gratis – für eine histrionische Persönlichkeit stellen wir das erwünschte Publikum dar. Sind wir aber als Publikum zu einfach, werden wir für sie uninteressant.

Was kennzeichnet die histrionische Persönlichkeitsstörung?

Die histrionische Persönlichkeitsstörung (HPS) zeichnet sich durch egozentrisches, dramatisch-theatralisches, manipulatives und extravertiertes Verhalten aus. Typisch sind extremes Streben nach Beachtung, übertriebene Emotionalität und eine Inszenierung sozialer Beziehungen.

Das Adjektiv histrionisch ist eine Wortbildung vom Lateinischen histrio, eine aus der etruskischen Sprache entlehnte Bezeichnung für einen Schauspieler, der zu Flötenklang Pantomimen aufführte.

Die Bezeichnung histrionische Persönlichkeitsstörung  (HPS) wurde 1980 im DSM-III, dem Diagnostischen und Statistischen Manual Psychischer Störungen (DSM) der Amerikanischen Psychiatrischen Vereinigung eingeführt. Diese neue Begrifflichkeit hat sich als nötig erwiesen, da der Begriff Hysterie  in der medizinischen Fachsprache als veraltet gilt und ihm ein abwertender Klang anhaftet.

Klinisch-Diagnostische Beschreibung des Verhaltens

Nach dem DSM-5 ist die histrionische Persönlichkeit charakterisiert durch ein tiefgreifendes Muster übermäßiger Emotionalität oder Strebens nach Aufmerksamkeit. Der Beginn liegt im frühen Erwachsenenalter, und das Muster zeigt sich in verschiedenen Situationen. Mindestens fünf der folgenden Kriterien müssen erfüllt sein:

  1. Fühlt sich unwohl in Situationen, in denen er/sie nicht im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit steht.
  2. Die Interaktion mit anderen ist oft durch ein unangemessen sexuell-verführerisches oder provokantes Verhalten charakterisiert.
  3. Sie zeigt rasch wechselnden und oberflächlichen Gefühlsausdruck.
  4. Setzt durchweg ihre körperliche Erscheinung ein, um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken.
  5. Hat einen übertrieben impressionistischen, wenig detaillierten Sprachstil.
  6. Zeigt Selbstdramatisierung, Theatralik und übertriebenen Gefühlsausdruck.
  7. Ist suggestibel (d. h. leicht beeinflussbar durch andere Personen oder Umstände).
  8. Fasst Beziehungen enger auf, als sie tatsächlich sind2.

Dr. Karl May – eine histrionische Persönlichkeit in Bestform

Für unsere jüngeren Leser: Wer war eigentlich Karl May?

Karl May alias Old Shatterhand alias Kara Ben Nemsi, der »Sohn der Deutschen«, ist der erfolgreichste Schriftsteller deutscher Sprache. Sein Gesamtwerk hat eine geschätzte Weltauflage von über 200 Millionen Exemplaren erreicht.

Einen »Reiseschriftsteller« kann man ihn freilich nur bedingt nennen. Mit seinen »Reiseerzählungen« hat er vielmehr einen Mythos geschaffen, deren größter er selbst war. Das Werk des Schriftstellers Karl May war die Selbsterfindung eines Mannes, der bis auf den »Blutsbruder« und »Edelmenschen« Winnetou seinesgleichen nicht hatte.

Karl Mays Ruhm beruhte auf einem in der Tat riesigen, von einem ungeheuren Fleiß geschriebenen Werks, in dem globale Exotik, fantastische Abenteuer und literarische Hochspannung zusammenkamen. Wirklich unwiderstehlich machten ihn drei Legenden. Die erste behauptet, dass er Old Shatterhand und der Ich-Erzähler Kara Ben Nemsi in einer Person gewesen sei. Die zweite besagt, dass er die Länder gesehen, die Geschichten selbst erlebt habe, von denen er erzählte. Und die dritte behauptet, dass er Zeit seines Lebens ein bürgerlich honoriger Mensch und Schriftsteller gewesen sei, der in seinem Spätwerk zum Verkünder einer weltumfassenden christlich-humanistischen Friedensbotschaft geworden sei.

Nichts davon ist wahr. Karl Mays Lebens-Werk war die gigantische Kompensation für eine Lebensgeschichte, die ihn zum Ausgestoßenen gemacht hatte und in der er zum Kriminellen geworden war. Sein egomanes »Ich« war geprägt von einer Epoche, deren Aufschneiderei ideologisch scheinbar so gegensätzliche Gestalten wie den späten Friedrich Nietzsche und Karl May verband.

Karl May war die Parodie des »Übermenschen« als »Edelmensch«. Aus der Heldenlegende Karl May sprach der auftrumpfende Geist des wilhelminischen Zeitalters: May verband individuellen und kollektiven Größenwahn, ein auf Grandiosität angelegtes Selbstbild mit christlich-fundamentalistischen und nationalistischen Überlegenheitsfantasien, meint Ludger Lütkehaus in der ZEIT9.

Karl May ist das perfekte Beispiel für einer histrionische Persönlichkeit

Karl May verfügte über richtig viel Fantasie. Doch nach und nach hatte es der Autor schwer, Dichtung und Wahrheit auseinanderzuhalten. Die Identifizierung des Autors mit seinen Helden könnte übrigens, neben der histrionischen Persönlichkeitsstörung, eine weitere Ursache haben. Möglich ist, dass sich der Wirbel um seine Person verselbstständigte und eine Eigendynamik entwickelte, aus der es kein Zurück mehr gab. Das wäre eine Parallele zu Karl-Theodor zu Guttenberg, wie wir später sehen werden.

Vor seiner ersten wirklichen Reise nach Amerika bzw. in den Orient, schreibt er in einem Brief an Professor Gustav Jäger: „Ich habe jene Länder wirklich besucht und spreche die Sprachen der betreffenden Völker. […] Keine der Personen und keines der Ereignisse, welche ich beschreibe, ist erfunden.“

Während seiner öffentlichen Lesungen beginnt er, den Fans seine „echten Narben“ zu zeigen und verschickt (Pferde-)Haare, die vom Kopf Winnetous stammen sollen. Er verteilt Autogrammkarten, die ihn im Old-Shatterhand-Kostüm zeigen, unterschrieben mit „Old Shatterhand (Dr. Karl May) mit Winnetous Silberbüchse“.

Er beginnt zu übertreiben. Den Zuhörern einer Lesung in München offenbart er, nach Winnetous Tod nun selbst Häuptling von 35.000 Apachen zu sein, die er an dessen Stelle befehlige. Er beherrsche 1200 Sprachen und Dialekte. Den Henrystutzen, Old Shatterhands Gewehr in den Romanen, habe nicht Benjamin Tyler Henry entwickelt, sondern er, Karl May.

Solche Aussagen werden den Fans zu viel. Bald wenden sich die ersten enttäuscht ab. Kritiker wie Fans nehmen ihm übel, dass er seine erfundenen Geschichten als echt erlebt ausgibt. Das Ende der Old Shatterhand-Legende ist 1904 besiegelt, als Mays Vorstrafenregister an die Presse gelangt. Als der Autor die Abenteuer in fernen Ländern erlebt haben will, saß er nachweislich in Haft. Jetzt holt ihn seine Vergangenheit ein: aufgrund der Vorstrafe für den Diebstahl einer Taschenuhr scheiterte seine Lehrerlaufbahn. Er war inhaftiert in verschiedenen Zuchthäusern wegen Betruges, Diebstahls, Hochstapelei, Landstreicherei und Amtsanmaßung3.

Die letzten Jahre von Karl May

Nach seiner einzigen Orientreise beginnt May literarischer zu schreiben. Sein bisheriges Werk nennt er nachträglich eine bloße „Vorbereitung“. Jetzt beginnt er, komplexe allegorische Texte zu verfassen. Er ist der Überzeugung, die „Menschheitsfragen“ (Wer sind wir? Woher kommen wir? Wohin gehen wir?) diskutieren oder gar lösen zu müssen, wendet sich bewusst dem Pazifismus zu und widmet dem Bestreben, den Menschen vom „Bösen“ zum „Guten“ zu erheben, mehrere Bücher.

Jubelnde Anerkennung erlebt May am 22. März 1912, als er auf Einladung des Akademischen Verbandes für Literatur und Musik in Wien den pazifistischen Vortrag „Empor ins Reich der Edelmenschen“ hält. Am 30. März 1912, nur eine Woche nach seiner Wiener Rede, stirbt Karl May. Todesursache ist laut Bestattungsbuch „Herzparalyse, acute Bronchitis, Asthma“. Jüngere Untersuchungen des Skeletts deuten auf eine chronische Bleivergiftung hin8.

Der Vorwurf, meine Doktorarbeit sei ein Plagiat, ist abstrus. Der Fall des histrionischen Dr. Karl-Theodor zu Guttenberg

Karl-Theodor zu Guttenberg entstammt dem sehr wohlhabenden vermögenden fränkischen Adelsgeschlecht Guttenberg. Als Wirtschaftsminister und später Bundesverteidigungsminister (2009 – 2011) war er, vor der Plagiats-Affäre, der Hoffnungsträger in der CSU. Welt- und wortgewandt, musikalisch, gutes Auftreten, jugendlich, zudem stets gut gekleidet, selbst in Afghanistan, aus dem Helikopter sportlich springend.

Guttenberg stieg innerhalb kurzer Zeit zu einem der populärsten Politiker in Deutschland auf. In einer Umfrage der Zeitschrift Stern aus dem Juni 2009 erreichte Guttenberg bei den beliebtesten Politikern den 3. Platz. 61 Prozent der Befragten gaben an, mit seiner Arbeit zufrieden zu sein. Laut Stern war dies bis dahin der beste Wert, der je für einen Wirtschaftsminister in Deutschland gemessen worden war.

Interessant ist, dass Die ZEIT resümierte, dass für Guttenberg in der „Kluft zwischen öffentlicher Bewunderung und politischer Bilanz“ die Gefahr liege: „Wie soll er die Projektionen mit seinen realen Möglichkeiten je zur Deckung bringen?“ Bislang versuche er „mit demonstrativer Unterstützung des Boulevards“, diese „Differenz zwischen Schein und Sein durch Inszenierung und Imagebildung zu überspielen“. Auf die irrealen Hoffnungen, die sich an seine Person knüpften, „antwortet er mit Selbststilisierung“.

Im Laufe des Jahres 2010 wurde Guttenberg sogar als potentieller Nachfolger Merkels als Kanzler gehandelt7.

Der Anfang vom Ende: Plagiatsfunde, GuttenPlag Wiki und die SZ

Der Strudel um den „Lügenbaron“ beginnt. Am 12. Februar 2011 findet Andreas Fischer-Lescano, Rechtswissenschaftler an der Universität Bremen, bei Durchsicht der Dissertation für eine Rezension neun Passagen, die zumeist wörtlich und ohne Quellenangaben aus anderen Publikationen übernommen worden waren. Er beurteilt diese Plagiate als Verstoß gegen die Promotionsordnung der Universität Bayreuth, informiert diese und die beiden Gutachter der Dissertation.

Zudem kontaktiert er Roland Preuß, Redakteur der Süddeutschen Zeitung. Dieser veröffentlicht mit seinem Kollegen Tanjev Schultz die Vorwürfe am 16. Februar 2011 in der Süddeutschen Zeitung, inklusive einer ersten Stellungnahme Guttenbergs und löst damit die Affäre aus.

Am 17. Februar 2011 gründet ein anonymer Doktorand die Online-Plattform GuttenPlag Wiki, um Rechercheuren im Internet eine gemeinsame Suche nach weiteren Plagiaten Guttenbergs und deren Dokumentation zu ermöglichen. Diese Webseite entwickelt sich rasant zur zentralen Anlaufstelle für Plagiatesucher und Journalisten

Am 21. Februar 2011 veröffentlicht das GuttenPlag Wiki einen Zwischenbericht: Auf 271 Seiten der Doktorarbeit sind plagiierte Textstellen gefunden worden.

Am 1. März 2011, nach Guttenbergs Rücktritt, veröffentlichte das GuttenPlag Wiki einen weiteren Zwischenbericht zu seiner Dissertation, wonach man auf 324 von 393 Seiten (82 Prozent) des Haupttextes plagiierte Stellen gefunden habe…

Master of Desaster: Karl-Theodor zu Guttenberg scheitert an seiner histrionischen Persönlichkeit. Er verliert den Überblick.

Am 16. Februar 2011 erklärte Guttenberg in Berlin: „Der Vorwurf, meine Doktorarbeit sei ein Plagiat, ist abstrus.“ Er sei „gerne bereit zu prüfen, ob bei über 1200 Fußnoten und 475 Seiten vereinzelt Fußnoten nicht oder nicht korrekt gesetzt sein sollten und würde dies bei einer Neuauflage berücksichtigen“.

Am 23. Februar 2011 räumte er in der regelmäßigen Fragestunde im Bundestag ein, eine „sehr fehlerhafte Doktorarbeit geschrieben“ zu haben. Er habe „hochmütig“ geglaubt, familiäre, politische und wissenschaftliche Anforderungen in Einklang bringen zu können, sei jedoch an dieser „Quadratur des Kreises“ gescheitert.

Der „Vorwurf, dass die Arbeit ein Plagiat ist“, sei „abstrus“, weil er „weder bewusst noch vorsätzlich getäuscht“ habe. Entsprechende Vorwürfe gegen ihn könnten als üble Nachrede „eine strafrechtliche Relevanz in sich tragen“. Er habe bei Abgabe seiner Doktorarbeit eine „ehrenwörtliche Erklärung abgegeben“, aber kein Ehrenwort.

Er beanspruche weiterhin, „als Vorbild – auch was das Eingestehen von und das Bekennen zu Fehlern anbelangt – wirken zu können“.

Mit seiner Bitte um Rücknahme des Doktorgrades habe er „das richtige Signal“ für den deutschen Wissenschaftsbereich gesendet, „dass man dann, wenn man selbst Fehler erkannt hat, die benannte Konsequenz zieht“.

Der Rücktritt wird unvermeidbar, auch hier zeigt sich seine histrionische Persönlichkeit. Er kann einfach nicht sagen: Ich habe Mist gebaut.

Am 1. März 2011 erklärte Guttenberg im Verteidigungsministerium vor Journalisten seinen Rücktritt als Verteidigungsminister:

„Wenn es auf dem Rücken der Soldaten nur noch um meine Person gehen soll, kann ich das nicht mehr verantworten. […] Ich habe wie jeder andere auch zu meinen Schwächen und Fehlern zu stehen. Und mir war immer wichtig, diese vor der Öffentlichkeit nicht zu verbergen. […] bis hin zum Schreiben meiner Doktorarbeit. […] Die enorme Wucht der medialen Betrachtung meiner Person – zu der ich viel beigetragen habe – aber auch die Qualität der Auseinandersetzung bleiben nicht ohne Wirkung auf mich selbst und meine Familie. […] Es ist mir (aber) nicht mehr möglich, den in mich gesetzten Erwartungen gerecht zu werden. […] Ich war immer bereit zu kämpfen, aber ich habe die Grenzen meiner Kräfte erreicht. Vielen Dank.“

Kritische Reaktionen auf zu Guttenbergs Rücktrittsbegründung

Guttenbergs Rücktrittsbegründung fand einige Kritik. Michael Konken, Vorsitzender des Deutschen Journalistenverbands meinte: „Den Medien die Schuld für sein Fehlverhalten in die Schuhe schieben zu wollen ist perfide.“

Claudia Roth, Vorsitzende der Grünen, nannte es „unanständig, dass Guttenberg bis zuletzt versucht, seine Plagiats-Affäre und das Wohl der Soldatinnen und Soldaten bis hin zu den in Afghanistan getöteten Soldaten gegeneinander auszuspielen“.

Die historische Bedeutung und Bewertung

Der Historiker Michael Philipp, der Rücktritte bundesdeutscher Politiker seit 1949 untersucht hat, nennt als ungewöhnliche Merkmale dieser Affäre:

Erstmals habe ein Bundespolitiker wegen Verstößen gegen ein Wissenschaftsethos, beschleunigt aufgedeckt von Internetbenutzern, und trotz anhaltender Beliebtheit zurücktreten müssen. Hier sei nicht etwas skandalisiert, sondern ein ernstes Problem aufgedeckt worden. Guttenberg habe seine Glaubwürdigkeit selbst aufgegeben: Jemand, der von sich sagt, er habe den „Überblick verloren“, könne kein Ministerium führen. Seine Erstreaktion („abstrus“) sei „politisch tödlich“ gewesen, da er damit seine Kritiker herabgesetzt habe, ohne ihre Vorwürfe ernst zu nehmen. Seine Erklärung vor wenigen ausgewählten Journalisten parallel zur Bundespressekonferenz sei ein „kommunikationspolitisches Desaster“ gewesen. Auch beim Rücktritt habe er nichts dazu gesagt, „dass es sich bei seiner Dissertation um ein Kompilat von Texten anderer Autoren handelt“, also ein „planmäßiges, über Monate andauerndes Handeln“, keine bloßen „Fehler“ im Sinne eines Missgeschicks oder Ausrutschers. Dieses Verhalten zeige einen „ausgeprägten, geradezu grotesken Realitätsverlust – weil er sich selbst für unangreifbar hält und sein Handeln in keiner Weise mit geltenden Normen abgleicht“.

Gleichwohl werde er sicher auf die politische Bühne zurückkehren… 4

Sind histrionisache Persönlichkeiten nur in der Politik und in mediennahen Berufen zu finden, oder auch in unserem Arbeitskontext ?

Für den konkreten Bezug zum Arbeitsleben verglichen die zwei Wissenschaftlerinnen, Belinda Jane Board und Katarina Fritzon Neurosewerte von Topmanagern und psychisch Kranken. In diesem Zusammenhang konzentrierten sie sich auf Verhaltensweisen, wie narzisstisch, zwanghaft, antisozial, paranoid oder histrionisch. Das Ergebnis: Die Manager toppten alle anderen in den Werten für „histrionische Persönlichkeitsstörung“; bei zwanghaft und narzisstisch zogen sie mit den klinischen Patienten gleich1, 6. Quod erat demonstrandum.

Fassen wir also nochmals zusammen:

Eine histrionische Persönlichkeit…

… will die Aufmerksamkeit der anderen auf sich ziehen, erträgt nur schlecht Situationen, in denen sie nicht im Mittelpunkt des Interesses steht. Sie strebt eifrig nach der Zuneigung ihrer Umgebung.

…drückt ihre häufig wechselnden Emotionen dramatisch überspitzt aus.

…hat einen eher emotionalen Redestil; beschwört Stimmungen herauf, lässt es aber an Präzision und Aufmerksamkeit fürs Detail fehlen.

…neigt dazu, die Personen ihrer Umgebung übermäßig zu idealisieren oder abzuwerten5.

Einige Handlungsempfehlungen.

Was kann ich tun, wenn ich mit einer histrionischen Persönlichkeit zusammentreffe?

Der von mir geschätzte Kollege Francois Lelord nennt folgende Handlungsvorschläge und Empfehlungen:

  • Wundere Dich nicht über seine übertriebene theatralische Art.
  • Lasse ihm von Zeit zu Zeit seinen Auftritt, aber ziehe auch Grenzen.
  • Bekunde Interesse, wenn er sich einmal „normal“ verhält.
  • Rechne damit, heute als Held und morgen als Schuft zu gelten (und umgekehrt).
  • Mache Dich nicht lustig über ihn.
  • Lasse Dich nicht durch sein Verführungsverhalten rühren.
  • Lasse Dich nicht zu sehr erweichen.

Konkret für drei Zielgruppen bedeutet dies:

Wenn es dein Chef ist: Versuche, Dir treu zu bleiben, auch wenn das Gegenteil von Dir erwartet wird. Bleibe innerlich stabil, denn sonst wird dein Chef seine Auftritte nutzen, um sich sein Aufmerksamkeitsbad zu sichern.

Es mag anfangs unterhaltsam sein, wird aber Kraft kosten im Lauf der Zeit. Damit rückt es in die Nähe von Dark-Leadership. Im ersten oberflächlichen Eindruck könnte man die histrionische Persönlichkeit mit Narzissmus verwechseln. Sicherlich gibt es Kombinationen von beidem.

Differentialdiagnostisch finden wir bei der histrionischen Persönlichkeit aber zudem öfter somatische Auffälligkeiten in der Vita, wie z.B. Ohnmachtsanfälle, zeitweise Taubheit oder Lähmungen am Körper oder auch das Auftreten einer Erblindung, die nicht organisch bedingt ist und später ohne Einschränkungen wieder verschwinden. Diese somatische Erblindung wird auch über Karl May in seinen frühen Lebensjahren berichtet.

Wenn es Dein Lebenspartner ist: Genieße das Spektakel und die Abwechslung. Im Grunde hast Du ihn/sie ja deswegen geheiratet.

Wenn es Dein Kollege ist: Wahre die nötige Distanz, die es ihm erlaubt, Dich zu idealisieren. 5

Die Kognitionsforschung liefert uns noch eine ergänzende Beobachtung

Es gibt einen wesentlichen, charakteristischen Zug, um eine histrionische Persönlichkeit zu diagnostizieren und zu verstehen. Diesen Wesenszug gilt es wohlwollend zu bedenken in unserem Urteil über eine Person:

Histrionische Persönlichkeiten sind kaum fähig, sich selbst genau einzuschätzen, sich selbst-beobachtend zu reflektieren, sowie die Ernsthaftigkeit und Wahrheit ihrer eigenen Gefühle einzuschätzen. Sie sind also quasi dissoziiert.

Also: Strahle und lache ich, weil ich tatsächlich gut gelaunt bin oder nur, um Aufmerksamkeit zu erzielen?